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11. Stuttgarter Sportgespräch

2015

„Ausverkauft! –
Wie integer ist der Sport?“

Integrität ist für den Sport von fundamentaler Bedeutung. Sie ist – wie in allen Bereichen der Gesellschaft – Gefährdungen ausgesetzt. Die permanente Herausforderung für den Sport liegt darin, solche Gefährdungen zu erkennen, integres Verhalten zu fördern und Integritätsverletzungen zu verhindern. Das elfte Stuttgarter Sportgespräch arbeitete heraus, welchen Anfechtungen sich die Protagonisten des Sports im Einzelnen ausgesetzt sehen und wie ihnen begegnet werden kann.​ In seiner Begrüßung der zahlreich wie nie erschienenen Teilnehmer griff Rechtsanwalt Dr. Matthias Breucker den Titel des Sportgesprächs auf und beschrieb die Ambivalenz des Begriffs „ausverkauft“: Im Sport belege ein „ausverkauftes Haus“ die Attraktivität der Veranstaltung und das Interesse der Zuschauer am Sportereignis. Lege man das Augenmerk aber auf die Werte des Sports, so könne deren „Ausverkauf“ das Fundament des Sports gefährden und der Begriff erfahre eine negative Konnotation. Umso bedeutsamer seien die Auseinandersetzung mit dem Thema und die Entwicklung von Ansätzen zum besseren Schutz der Integrität. Diesen Gedanken griff die Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Stuttgart, Frau Dr. Susanne Eisenmann, in ihrem Grußwort auf: Wegen der zentralen Bedeutung der Integrität müsse der Sport diese erforderlichenfalls auch zwangsweise durchsetzen. Dabei sollte er mit Augenmaß vorgehen, um nicht in einer Überregulierung und Gängelung zu enden. Das inzwischen bundesweit beachtete Forum des Stuttgarter Sportgesprächs sei der richtige Ort, um die Gefährdungen zu analysieren und Abhilfemaßnahmen auszuloten.​ In seinem Impulsreferat beleuchtete Rechtsanwalt Dr. Christoph Wüterich exemplarisch die Protagonisten des Sports: Die im Zentrum des Geschehens stehenden Sportler verletzen die Integrität durch alle Formen der Manipulation von Wettkämpfen, namentlich durch Wettbetrug oder Doping. In beiden Feldern soll nunmehr nach verbreiteter Auffassung der Gesetzgeber helfen, nachdem die Selbstreinigungskräfte des Sports offenbar nicht ausreichen. So wichtig indes die ethisch-moralischen Grundwerte des Sports sind, so sehr stelle sich doch die Frage, ob diese als staatliche Schutzgüter einzuordnen und durch das Strafrecht zu schützen seien, so Wüterich.​ Sportorganisationen tun sich schwer, integres Verhalten ihrer Vertreter zu gewährleisten. Wüterich verwies auf das Beispiel der FIFA: Dort seien insgesamt 209 Mitgliedsverbände organisiert, die jeweils einen Vertreter mit einer Stimme in den FIFA-Kongress entsenden. Versammlungen und Abstimmung in internationalen Gremien seien vor allem vom Prinzip der Gegenseitigkeit bestimmt. Zugleich wandte sich Wüterich gegen eine pauschale (Vor-) Verurteilung, wie sie teilweise in den Medien zu finden sei. Der sachlich richtige Weg seien seriöse Ermittlungen virulenter Sachverhalte. Die FIFA habe mit dem Chefermittler Michael Garcia und dem Vorsitzenden der Untersuchungskammer Joachim Eckert durchaus beachtliche Maßnahmen ergriffen, auch wenn diese öffentlich durch die Berichterstattung über den Streit zwischen den Protagonisten Garcia und Eckert eine schlechte Resonanz erfahren hätten. Nicht bestreiten könne man, dass sich viele große Sportverbände intensiv um transparente Strukturen bemühten und hierfür auch externen Sachverstand einschalteten. Auch neue Institutionen wie Ombudsmänner und Compliance-Beauftragte belegten, dass das Thema bei vielen Verbänden präsent sei. Am Beispiel des Fußballs wies Wüterich auf das Problem der Verzahnung zwischen Wirtschaft und Sportvereinen hin: RB Leipzig trete zwar offiziell in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins auf, sei aber de facto vom Hauptsponsor kontrolliert, bei dem sämtliche oder jedenfalls eine Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder angestellt sind. Mit solchen Konstruktionen laufe zugleich die Vorgabe des Deutschen Fußball-Bundes leer, wonach der jeweilige Verein die Mehrheit an einer Spielbetriebsgesellschaft halten müsse. Am Beispiel der UEFA-Regeln für Financial Fairplay führte Wüterich aus, dass die Vorgabe, sämtliche Ausgaben aus selbst erwirtschafteten Einnahmen zu bestreiten, durch astronomische Sponsorenverträge wie im Falle Manchester City mit Ethihad Airways umgangen werde könne. Die Medien, so Christoph Wüterich weiter, legten hohe Maßstäbe an die Integrität im Sport an. Ob die Medien aber selbst immer den hohen Anforderungen gerecht würden, sei fraglich: So seien Vorverurteilungen sowohl bei Korruptionsvorwürfen von Sportfunktionären als auch in Dopingfällen wie etwa in der Causa Pechstein an der Tagesordnung. Auch unter diesem Gesichtspunkt sei Integrität zu diskutieren. Damit übergab Wüterich den Stab an den ZDF-Journalisten Eike Schulz, selbst Jury-Mitglied des Fair-Play-Preises des deutschen Sports. Der Basler Strafrechtler Professor Dr. Mark Pieth wies eingangs der Podiumsdiskussion auf ein Strukturproblem der Sportverbände hin: Sie seien als „non-profit organisations“ gegründet und seien noch vor wenigen Jahren bei jeder Weltmeisterschaft kurz vor der Insolvenz gestanden. Mittlerweile sei es zwar den großen Verbänden wie der FIFA gelungen, erhebliche Gewinne zu erzielen. Die Organisationsform gleiche aber nach wie vor dem, was man in der Schweiz gemeinhin als „Hühnerlizüchterverein“ bezeichne. Entsprechend werde über die Verteilung der Gelder entschieden: „Sie wissen, dass sie denen mehr geben müssen, die sie wählen sollen.“ So komme es, dass ein Land wie Tonga genauso viele Gelder erhalte, wie der deutsche Fußballverband. Die Mittelflüsse seien aufgrund der unzureichenden Organisationsform schwer zu kontrollieren. Der stellvertretende Vorsitzende des Sportsausschusses des Deutschen Bundestages, Reinhard Grindel, erläuterte in seiner Funktion als DFB-Schatzmeister, dass beim Deutschen Fußball Bund Wert auf eine gerechte Verteilung der Gelder gelegt werde. So seien etwa die Einnahmen aus dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 2014 auch auf die jeweiligen Landesverbände verteilt worden und unter anderem in die deutschlandweit 366 Stützpunkte mit 1.300 Stützpunkttrainern investiert worden. Zugleich plädierte Grindel dafür, das derzeit geplante Anti-Doping-Gesetz um ein Gesetz gegen Spielmanipulationen zu ergänzen. Dies sehe auch der Koalitionsvertrag vor. Das Thema Integrität erfordere aber besondere Sensibilität nach allen Richtungen: So habe er als Anti-Korruptionsbeauftragter des DFB auch Fälle erlebt, in denen etwa nicht-nominierte Spieler falsche Vorwürfe gegenüber Trainern erhoben hätten. Professor Pieth ergänzte, die Schweiz als Sitzstaat von an die 60 internationalen Spitzenverbänden könnte durchaus die Zügel anziehen und eine größere Transparenz erzwingen. So könnte man das Bundesamt für Sport als Aufsichtsbehörde einsetzen und die Steuerbefreiung an bestimmte Voraussetzungen knüpfen. Die Schweiz neige aber dazu, „als Piratenstaat zu agieren“. Sie werde entsprechende Regelungen nur im Verbund mit anderen Staaten anpacken, um eine Abwanderung der Spitzensportverbände zu verhindern. Interessant sei, so Pieth, dass nach seiner Erfahrung Staaten und Wirtschaftsunternehmen leichter zu reformieren seien als der Sport. Dabei seien es oftmals nicht die „old boys“, die sich einer Strukturreform widersetzten, sondern die nachstrebende „junge Equipe“, die sich in den bestehenden Strukturen in Stellung gebracht habe und darauf warte, die herrschenden Funktionäre zu beerben. Die ehemalige Fußballnationalspielerin und heute bei Jung von Matt / sports als Geschäftsführerin tätige Katja Kraus bestätigte, dass professionelle Strukturen im Sport dem Missbrauch begegnen und das Management-Niveau heben können. Das Engagement der Wirtschaft und die Investitionen etwa in Fußballvereine bringe es mit sich, dass sich auch andere Vereine professioneller organisieren müssten und die Bundesliga nicht mehr ein „Versorgungssystem von Fußballern für alte Fußballer“ sei. Reinhard Grindel ergänzte, dass der DFB Verständnis dafür habe, dass sich Investoren wie Dietmar Hopp in Hoffenheim oder Martin Kind in Hannover Gestaltungsspielräume schaffen wollen. Die 50+1-Regelung sei kein Selbstzweck, sondern solle seriöses, langfristiges Wirtschaften gewährleisten: „Wichtig ist eine Nachhaltigkeit, die dem Sport dient und nicht reinen Kapitalinteressen.“ Wenn dies gewährleistet sei, spreche nichts dagegen, in besonders begründeten Fällen Ausnahmen von der 50+1-Regelung zuzulassen. Wichtig sei, dass gleiche Ausgangsbedingungen und Transparenz herrschten. Das Prinzip des „Financial Fairplay“ werde „die Nagelprobe für Michel Platini“ bei der UEFA. Es werde zu beobachten sein, wie etwa im Falle Paris Saint Germain verfahren werde. Zur Überprüfung der Vergabe von Weltmeisterschaften durch die FIFA äußerte sich Professor Mark Pieth als ehemaliger Leiter der unabhängigen Governance-Kommission der FIFA: Die öffentlich ausgetragenen Differenzen des Ermittlers Garcia mit dem Vorsitzenden der rechtsprechenden Kammer Eckert seien Ausweis der Unabhängigkeit der handelnden Personen: „Es handelte sich um ein Medien-Fiasko, das trifft zu; in der Sache wird aber vermutlich im Ermittlungsbericht nichts oder nicht viel drin stehen, was letztlich gerichtsfest verwertet werden könnte.“ Pieth führte die öffentliche Diskussion auf unterschiedliche Ausgangspositionen und Interessen der Verantwortlichen zurück: „Garcia ist mehr ein republikanischer Politiker mit entsprechenden Ambitionen“, urteilte Pieth. Vor diesem Hintergrund sei er auch an die Öffentlichkeit getreten. Dagegen sei Eckert ein deutscher Strafrichter, der mit „Erfahrungen als Anti-Mafia-Staatsanwalt mit allen Wassern gewaschen ist und keine Angst vor Niemandem hat. Er ist vorgegangen wie in einem deutschen Strafverfahren – absolut korrekt.“ Auf die Verantwortung des Sports für die Einhaltung von Menschenrechten angesprochen, sagte der Leiter des Sportressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Anno Hecker: Selbstverständlich darf man – wie der FC Bayern in Riad – überall Fußball spielen – aber bitte mit Haltung!“. Es sei nicht zu viel verlangt, wenn ein Verein darauf dringe, dass seine Spiele auch von Frauen angesehen werden dürften. Man dürfte den Sport nicht damit überfordern, die Menschenrechtslage grundlegend zu ändern, aber „Haltung kann man vom Sport verlangen“, sagte Hecker. Professor Pieth nahm die Sportorganisationen in die Pflicht: Im Zusammenhang mit Sportgroßereignissen wird alles geregelt – vom Lichtschalter bis zur Bierbüchse. „Wer Bierbüchsen regulieren kann, könnte auch Vorschriften für den Stadionbau und andere Rahmenbedingungen schaffen, an die sich die Veranstalter zu halten haben.“ Umgekehrt dürfe man wegen des weltumspannenden Charakters des Sports nicht die mitteleuropäischen Maßstäbe unbesehen an alle Austragungsorte anlegen: „Fußball gibt es eben überall“. Anlässlich der Handball-Weltmeisterschaft in Katar wies Moderator Eike Schulz auf Besonderheiten hin: Die Nationalmannschaft von Katar habe 9 von 16 Spielern eingebürgert, die Mehrzahl davon aus dem Balkan. In den Achtel-, Viertel und Halbfinalspielen von Katar waren Schiedsrichter aus Kroatien, Mazedonien und Serbien eingeteilt. Die Ergebnisse sind bekannt. Professor Pieth sagte: „Der Handballverband sitzt 150 Meter von meinem Büro entfernt. Ich habe mir schon öfter überlegt, ob ich dort einmal klingeln soll.“ Eike Schulz sprach auch die Rolle der Medien an: 680 von circa 1.700 akkreditierten Journalisten bei der Handball-WM hätten Flug und Unterkunft von Katar bezahlt bekommen, so dass sie kaum gegen die Weltmeisterschaft schreiben würden. Anno Hecker erwiderte, dass auch der Journalismus selbstverständlich Integrität wahren müsse und der Berichterstatter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgerichtig von der FAZ bezahlt worden sei. Eine wesentliche Gefährdung der Integrität des Sports geht von Doping aus. Anno Hecker wies anlässlich der Dopingsperre gegen Claudia Pechstein darauf hin, dass nach aktuellen Erkenntnissen das System nicht funktioniert habe. „Der CAS ist nicht unabhängig“. Das Dilemma bestehe darin, dass der indirekte Nachweis für die Dopingbekämpfung von zentraler Bedeutung sei: „Es gibt circa 150 Möglichkeiten, EPO herzustellen und die Wissenschaft kennt davon vielleicht 100. Also brauchen wir den indirekten Beweis“. Allerdings sei für diesen anerkannt, dass ein einzelner Blutparameter – im Falle Claudia Pechstein die jungen roten Blutkörperchen (Retikulozyten) – nicht ausreiche, um einen verlässlichen Nachweis zu führen. Es erhebe sich daher die Frage: „Gab es ein politisches Interesse, den indirekten Beweis durchzupeitschen?“ ​ Nach dem Podium setzte sich die Diskussion im Teilnehmerkreis und beim anschließenden Stehempfang fort. Zum elften Stuttgarter Sportgespräch waren knapp 300 geladene Gäste gekommen. Darunter fand sich neben zahlreichen Entscheidungsträgern und Vertretern aus Sport und Gesellschaft auch ein Seminarkurs des Stuttgarter Wilhelms-Gymnasiums, der von Dr. Matthias Breucker mit den Worten begrüßt wurde, dass die Familien der Anwälte der Kanzlei Wüterich Breucker dort „über 100 Schuljahre“ verbracht hätten. Unter den Teilnehmern war auch der Präsident des Deutschen Skiverbandes und des Oberlandesgerichts Stuttgart, Dr. Franz Steinle, der Präsident des Deutschen Turnerbundes Reiner Brechtken, der Vorstand der Nationalen Anti-Doping Agentur, Dr. Lars Mortsiefer, und der Leiter des Olympiastützpunktes Stuttgart, Thomas Grimminger. Die Stuttgarter Zeitung ordnete das Sportgespräch im Nachgang als „eines der wichtigsten deutschen Foren für sportpolitische Themen“ ein.

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